Da war die Erde und der Himmel und die Tänzerin, die beide in sich vereint.

Baladi

 

Die Musik des Baladi ist im Zuge der Landflucht in Ägypten im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden. Baladi heißt „vom Lande kommend“ und weist auf die volkstümlichen Wurzeln der Musik hin. Die neuen Stadtbewohner brachten ihre musikalischen Traditionen mit und passten sie dem neuen Lebensgefühl und den urbanen Einflüssen an. Musiker und Tänzerinnen improvisieren innerhalb einer musikalischen Grundstruktur, die im Laufe der Zeit komplexer wird. Die Einführung neuer Instrumente wie Akkordeon, Saxophon und Klarinette eröffnen neue Ausdrucksmöglichkeiten. Der Musik wohnen oft eine Wehmut und eine Melancholie um verloren gegangene Bezüge inne, die von fröhlichen und unbeschwerten Sequenzen abgelöst werden, weshalb Baladi mithin als „Blues Ägyptens“ bezeichnet wird. Der Ausdruck eines breiten Gefühlsspektrums und komplexer rhythmischer Strukturen hat Baladi zu einer anspruchsvollen musikalischen und tänzerischen Kunstform werden lassen. Auch heute wird in Ägypten Baladimusik gespielt und neu entwickelt, wenngleich sie nicht mehr den Stellenwert hat, den sie vor mehr als Hundert Jahren einnahm.



Sha'abi

 

steht für das Volk, vom Volk kommend. Die ländlichen und archaischen Wurzeln des Sha'abi offenbaren sich in seiner Schlichtheit und Erdigkeit verbunden mit dem für Raqs Sharqi zentralen In-sich-Ruhen der Tänzerin. Wiederkehrende kraftvolle, ekstatische Rhythmen entfachen das Feuer im Becken – die Hüftbewegungen sind satt und voll. Gesungene, emotionsgeladene Gedichte (Mawwal) harmonieren mit einem durchlässigen mäandrierenden Bewegungsfluss. Die Musik des Shaábi ist geprägt von der Musik- und Tanztradition der Fellahi (oft bäuerliche Landbevölkerung am Nil), der Beduinen, der Nubier, der Menschen aus dem Saiid (Oberägyptern) sowie der Ghawazee (ägyptische Zigeunerinnen, die eine eigene Tanz- und Musikkultur begründeten). Die charakteristischen Musikinstrumente im Sha'abi sind die Mizmar (Blasinstrument mit Einfach- oder Doppelrohrblatt), Arghul (Doppelrohrflöte), Tabla (Trommel) und Bendir (Rahmentrommel)



Sharqi

 

Mit dem Aufkommen orchestral besetzter Instrumentenensembles, den takht, die an den Höfen wohlhabender Bürger spielten, entwickelte sich auch der Raqs Sharqi weiter. Die Awalim, in Musik, Tanz, Dichtung und Gesang ausgebildete Frauen, bildeten eigene takht-Ensemble, die an den Höfen auftraten und eine verfeinerte Kunstform des Tanzes darboten, nicht selten mit Schleier. Mit dem zunehmendem Austausch Ägyptens zu westlichen Ländern, insbesondere zu Europa, hielten Saiteninstrumente in die Musik Einzug. Sie wurde zunehmende orchestral und erhielt eine Komposition, wobei das zentrale Merkmal ägyptischer Musik, die Improvisation, zum Teil trotzdem erhalten blieb. Sharqi füllt diese Musik mit raumgreifenden Bewegungen einerseits und feinen binnenkörperlichen Bewegungen andererseits. Typische Instrumente des Sharqi sind die Tabla, Qanun (Zitter), Darabukka (Trommel), Rababa oder Kamanga (arabische Geigen) oder Geige, Nai (kleine Rohrflöte), Tambourin und ud (Zupfinstrument).



Zeitgenössischer Sharqi

 

Wie jede lebendige Kunst entwickelt sich auch die ägyptischen Musik- und Tanzkultur weiter, indem Neues erkundet, bestehende Muster verlassen und im Bewusstsein der Tradition zu einem neuartigen Ganzen verschmelzen. Zeitgenössischer Sharqi ist dementsprechend vielgestaltig und eröffnet der Tänzerin die Freiheit, neue Wege zu gehen. Insbesondere in der Weltmusik, in der die Musiktraditionen verschiedener Länder verschmelzen, können Elemente und Bewegungsprinzipien anderer Tanzstile einfließen und zu einer neuartigen Sprache reifen. Nicht ist verboten und alles wird möglich.



Der Schatz Ägyptens, erschienen in der Online-Ausgabe von SEIN, 18.04.2019